Wissenschaftliche Studie
Der Buchstabenhüpfer
Zum Lesen liegt Jakob normalerweise auf seinem Bett oder macht es sich in einem Sessel gemütlich. Doch wenn der Zehnjährige zum Test-Lesen ans Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung kommt, legt er seinen Kopf in ein Metallgestell, bis Stirn und Kinn ganz fest anliegen. Wie beim Augenarzt sei das, sagt der blonde Junge und setzt sich routiniert an das schwarze Gerät. Für seinen Ausflug in die Wissenschaft hat er sich sein Bayern-München-Trikot übergezogen. In einer Stunde wird ihn seine Mutter im Institut wieder abholen, bis dahin dient Jakob der Forschung. "Bist du bereit?", fragt Versuchsleiter Simon Tiffin-Richards. "Kann es losgehen?" – "Klar", sagt Jakob und beginnt eine Geschichte zu lesen, die vor ihm auf einem Monitor erscheint. "Der Detektiv war auf einer heißen Spur. In der Hand hielt er seine Lupe und folgte den Krümeln am Boden, bis er zu einer Tür kam ..." Während Jakob leise für sich liest, zeichnet eine Kamera jede Bewegung seiner Pupillen auf. Auf dem Bildschirm des Versuchsleiters erscheint diese als ein weißer Punkt, der über die Buchstaben huscht.
Jakob gehört zu einer Gruppe von 140 Kindern aus zwei Berliner Grundschulen. Sie nehmen teil am Forschungsprojekt REaD (Reading Education an Development). Seit Beginn dieses Jahres untersucht ein Team aus Psychologen und Linguisten die Leseentwicklung von Kindern. Über vier Jahre hinweg wollen sich die Forscher mit der Frage beschäftigen, welche kognitiven Prozesse beim Lesen ablaufen. Sie verfolgen den Lernweg von Zweitklässlern bis zur vierten Klasse, testen aber auch ältere Kinder und Erwachsene, um so viele Vergleichsdaten wie möglich zu erhalten.
Die Forscher wollen herausfinden, auf welche Weise Kinder lesen lernen – und warum es bei manchen hakt. "In kaum einem anderen elementaren Lernbereich gibt es so große Unterschiede zwischen den Menschen wie beim Lesen", sagt Sascha Schroeder, Leiter der Forschungsgruppe. "Die Lesefähigkeit eines guten Zweitklässlers kann bereits der eines schlechten Sechstklässlers entsprechen, und ein guter Leser in der vierten Klasse erreicht vielleicht schon das Niveau eines Erwachsenen aus dem unteren Leistungsbereich."
Doch obwohl die Lesekompetenz für den Schulerfolg und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben so wichtig ist: Was genau sich beim Lesenlernen eigentlich abspielt und welche kognitiven Prozesse den unterschiedlichen Leseleistungen zugrunde liegen, darüber weiß man bisher nur wenig. Die Forschung ging in der Vergangenheit über Bestandsaufnahmen nicht hinaus: Internationale Schulleistungsstudie wie Pisa oder Iglu haben zwar gezeigt, wie groß die Unterschiede in der Lesekompetenz von Grundschülern und Jugendlichen sind – wie es aber dazu kommt, dass aus manchen Kindern Bücherwürmer werden, während andere sich noch als Erwachsene durch das Dickicht der Buchstaben kämpfen müssen, liegt dagegen weitgehend im Dunkeln.
Noch immer leben rund 7,5 Millionen funktionale Analphabeten in Deutschland. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass 4,4 Prozent der erwachsenen Deutschen bestenfalls einzelne Wörter lesen können. Weitere zehn Prozent scheitern an kürzeren Texten. Eine Fülle an Programmen und Initiativen zur Leseförderung soll darauf reagieren – ihre Wirksamkeit aber ist oft ungewiss. "Die Gruppe der schwachen Leser unter den Schülern macht in allen europäischen Ländern etwa zwanzig Prozent aus. Wir wollen zunächst herausfinden, welche mentalen Prozesse dafür verantwortlich sind", sagt Sascha Schroeder. Auf einer besseren Datengrundlage – so die Erwartung – lassen sich dann passgenauere Trainingsmaßnahmen entwickeln, die effektiv sind, ohne die Kinder zu überlasten.
Dafür muss eine Fülle von Einzelfragen beantwortet werden: Welche individuellen Unterschiede zeigen sich auf den verschiedenen Alters- und Entwicklungsstufen? Bis wann stellt die Länge der Wörter eine Hürde dar? Wann gelangen Kinder vom Entziffern einzelner Buchstaben zur Erfassung von Silben, grammatischen Endungen und Wörtern? Und wie schaffen sie es schließlich, zum Sinn ganzer Sätze und Texte vorzustoßen? Die Art der Augenbewegungen und die Lesegeschwindigkeit verraten viel darüber, wie diese komplizierten Prozesse ablaufen. Die Probanden lesen nicht nur Texte, sondern auch Listen mit "Quatschwörtern" wie Gutsark, elmänken oder gollig. Damit wollen die Wissenschaftler feststellen, wie gut die Kinder Buchstabenreihen entschlüsseln, bei denen sich kein Sinn erraten lässt. Andere Tests blenden während des Lesens falsch geschriebene Wörter ein (Gaist statt Geist, Bnad statt Band). Sie zeigen, ob Kinder Buchstaben noch Schritt für Schritt in Laute übersetzen müssen, um sich zum Wort und seiner Bedeutung vorzuarbeiten. Oder ob sie diese Stufe schon weitgehend überspringen können. Dann nämlich reicht auch eine fehlerhafte Schreibweise aus, um das im Kopf gespeicherte Wortwissen abzurufen.
Die Geschichten, die Jakob zu lesen bekommt, sind kurz. Sie handeln von Piraten, Gespenstern oder alltäglichen Erlebnissen. Wenn er mit einem Text fertig ist, drückt er eine Taste und bekommt eine Frage auf den Bildschirm. Die Antwort zeigt dem Testleiter, ob er die Geschichte verstanden hat. Der Junge liest schnell und flüssig, nur selten hüpft der weiße Blick-Punkt auf dem Monitor des Versuchsleiters zurück oder verharrt länger auf einem Wort. Nach einer halben Stunde ist Jakob mit allen 24 Geschichten durch – auf die angebotene Pause hat er verzichtet. "Was liest du denn zu Hause so?", fragt Versuchsleiter Simon Tiffin-Richards. Die drei ??? , sagt Jakob. "Und Donald-Duck-Taschenbücher!"
"Jakob ist ein sehr guter Leser, die meisten Kinder in seinem Alter brauchen für unsere Texte drei- oder viermal so viel Zeit", sagt Sascha Schroeder.
Die Untersuchung der Blickbewegungen bildet einen Kernbereich des Forschungsprojekts, denn sie liefert wichtige Aufschlüsse darüber, wie sich die Lesekompetenz entwickelt und über welche Wörter und Wortformen das Auge "stolpert". Wenn wir lesen, dann scheint es uns zwar so, als würden unsere Augen über die Zeilen gleiten, doch in Wirklichkeit ähnelt der Ablauf eher dem Stop-and-go-Verkehr. Der Blick bewegt sich in Sprüngen – sogenannten Sakkaden – über die Buchstaben. Unterbrochen werden diese Sprünge von kurzen Pausen, die bei erwachsenen Lesern etwa eine Viertelsekunde dauern. Während dieser Pausen verarbeitet das Gehirn die Informationen, die die Wörter liefern.
Bei Leseanfängern ähneln diese Bewegungen kurzen Hüpfern. Sie arbeiten sich Buchstabe für Buchstabe voran. Erreichen sie das Ende eines langen Wortes, haben sie dessen Anfang oft schon vergessen. Immer wieder springt deshalb der Blick zurück und fixiert dasselbe Wort noch einmal, bevor er weitergeht. Bei einem erwachsenen, routinierten Leser sind die Sakkaden länger. Er verarbeitet die Wörter in Silben oder noch größeren Einheiten, vertraute Wörter überspringt er auch ganz. Die Pausen, die er braucht, um Wörter zu fixieren, sind nur kurz.
Dass der Leseprozess überhaupt so ruckartig verläuft, liegt daran, dass nur der Mittelpunkt des Blickfeldes scharf genug ist, um Buchstaben identifizieren zu können. Deshalb müssen die Augen immer wieder kurze Stopps einlegen. Der Sichtkegel allerdings ist nicht ganz rund, sondern nach rechts in die Leserichtung etwas ausgebuchtet. Dieser Bereich ermöglicht es dem Auge, auch Buchstaben, die gleich kommen werden, schon im Vorfeld mit einzubeziehen. Diese Vorauserkundung interessiert die Forscher besonders, weil sie vermuten, dass diese von den schwächeren Lesern nicht optimal für die Informationsverarbeitung genutzt wird.
"Erwachsene überspringen etwa 30 bis 40 Prozent aller Wörter. Leseanfänger schauen hingegen auf jedes Wort, meist sogar mehrmals hintereinander", sagt Schroeder. Jakobs Lesemuster ist genau dazwischen, er betrachtet nicht mehr jedes Wort, überspringt aber auch nicht so viele wie ein Erwachsener.
Bei Kindern mit einer erfolgreichen Lesekarriere setzt die Automatisierung des Leseprozesses frühzeitig ein, immer schneller ziehen sie die relevanten Informationen aus einem Text. Schwache Leser hingegen kommen über die Phase des mühsamen Buchstabenhangelns nur langsam oder gar nicht hinaus. Lange dachte man, dass die Bewegungsmuster ihrer Augen noch nicht ausgereift und somit die Ursache der Leseprobleme seien. Inzwischen weiß man, dass es umgekehrt ist: Die unsteten Augenbewegungen solcher Leser sind eine Folge ihrer schriftsprachlichen Defizite.
Die Schule allein genügt nicht, um flüssig lesen zu lernen. Dafür ist es wichtig, auch außerhalb des Unterrichts immer wieder zu einem Buch zu greifen. Ein Kind, dem das Lesen schwerfällt, gerät deshalb schnell in eine Abwärtsspirale: Es geht Texten und Büchern aus dem Weg und erwirbt keine Routine. Dennoch sei es durchaus ein Verdienst der Lehrer, dass die Leseleistungen nicht noch viel weiter auseinanderdrifteten, sagen die Forscher am Max-Planck-Institut. Einiges sei aber von der Schule nur schwer zu beeinflussen: Dazu gehörten die Leseanreize, die das Elternhaus biete. Mit Fragebogen versuchen die Wissenschaftler, herauszufinden, wie viele Bücher bei ihren jungen Probanden zu Hause stehen und wie oft vorgelesen wird. "Direkte Zusammenhänge mit der Leseleistung festzustellen ist schwierig, aber generell zeigt sich schon, dass die Unterstützung zu Hause eine Rolle spielt", sagt Simon Tiffin-Richards. Daneben nähmen aber auch genetische Faktoren Einfluss auf die Lesefähigkeit, ergänzt Sascha Schroeder. 200 Stellen im Genom wurden bislang identifiziert, die mit Leseschwächen im Zusammenhang stehen.
"Bei leseschwachen Kindern kommt es vor allem darauf an, ihr kognitives Rüstzeug zu stärken, indem wir ihre Fähigkeit und ihren Willen, selbst zu lernen, fördern." Mit konkreten Handreichungen halten sich die Forscher bislang zurück. Aber vieles, was sie im REaD-Projekt erarbeiten, dürfte in künftige Lernmaterialien einfließen: Dazu gehört die Onlinedatenbank childLEX, die den Wortschatz von Kinderbüchern – eingeschlossen grammatische Funktionswörter – nach Altersstufen und Häufigkeit des Vorkommens aufführt. Diese Datenbank gibt nun Aufschluss darüber, welche Wörter Kinder in welchem Alter wahrscheinlich kennen. Das wiederum kann bei der Gestaltung von Übungstexten helfen: Vor allem schwächeren Schülern fällt das Lesen leichter, je vertrauter die Wörter sind. Nimmt man darauf Rücksicht und tastet sich langsam in das Neuland vor, besteht die Chance, dass der Spaß am Lesen nicht schon im Keim erstickt wird.